Dienstag, 10. Januar 2012

Europäische Kommission vs. Ungarn

Caroline Hemler, LL.M. (Wellington)

Der Ton aus Brüssel gegenüber der ungarischen Regierung wird rauer. Nachdem die Europäische Kommission die ungarische Seite in den letzten Monaten mehrmals eindringlich vor geplanten Gesetzesänderungen „gewarnt“ hat, wird nun bereits von möglichen zu ergreifenden „Maßnahmen“ gesprochen. Im Raum steht die Einleitung sog. Vertragsverletzungsverfahren, die vor allem im Zusammenhang mit der Einschränkung der Unabhängigkeit der Zentralbank, aber auch hinsichtlich einer Gefährdung der Unabhängigkeit der Richter und möglichen Einschränkungen des Datenschutzes diskutiert werden. Andererseits werden jedoch auch Stimmen laut, die gar für den Anstoß eines Verfahrens nach Art. 7 EUV  plädieren. Ein solches Verfahren kann eingeleitet werden für den Fall, dass der Verdacht besteht ein Mitgliedstaat verstoße gegen die in Art. 2 EUV normierten Grundwerte der Europäischen Union. Der vorliegende Beitrag möchte sich daher näher mit diesen beiden möglichen Vorgehensweisen von Seiten der Europäischen Kommission gegenüber Ungarn auseinandersetzen und diese kurz skizzieren.



Das Vertragsverletzungsverfahren

Das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 ff. AEUV stellt die Allzweckwaffe der Europäischen Kommission dar, falls ein EU-Mitgliedstaat sich den in den Verträgen eingegangen Verpflichtungen entziehen möchte bzw. diesen schlechthin nicht Folge leistet. Das Verfahren dient somit in erster Linie der Durchsetzung des Unionsrechts. Es handelt sich beim Vertragsverletzungsverfahren um ein zweistufig konzipiertes Verfahren. Auf der ersten Stufe kommt es vorwiegend zu Gesprächen zwischen der Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat, der zu den im Raum stehenden Vorwürfen gehört wird. Hierbei soll der Mitgliedstaat die Gelegenheit erhalten, mögliche Verletzungen von sich aus zu beseitigen. Dieses sog. Vorverfahren beginnt, sobald die Kommission dem betroffenen Mitgliedstaat ein förmliches Mahnschreiben sendet, wobei sie ihn auf die konkrete Verletzung hinweist und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme bzw. zur Beseitigung der Verletzung gibt. Erst wenn dieses Vorgehen keinen Erfolg verspricht, kann in die zweite Phase, der Klageerhebung vor dem Gerichtshof, eingetreten werden. Zwar ist jeder Mitgliedstaat zur Erhebung der Klage nach Art. 259 Abs. 1 AEUV berechtigt, in der Regel tritt jedoch die Europäische Kommission nach Art. 258 Abs. 2 AEUV als Kläger auf. Dies erklärt sich selbstredend durch die Gefährdung der politischen Beziehungen zwischen den sich ansonsten „streitenden“ Mitgliedstaaten. Klagegegenstand ist laut Art. 258 Abs. 1 AEUV die Verletzung der „Verträge“ durch den Mitgliedstaat. Konkret fallen hierunter, neben der Verletzung des Primärrechts, auch Verstöße gegen sekundäres Unionsrecht sowie gegen die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Die Kommission kann nur Klage erheben, wenn sie von dem Verstoß des Mitgliedstaates gegen das Unionsrecht überzeugt ist.

Im Fall Ungarns müsste somit primär geprüft werden, ob eine tatsächliche, objektive Rechtsverletzung gegeben ist, wovon die Europäische Kommission überzeugt ist. Eine solche Verletzung könnte sich im Fall der Kritik zur fehlenden Unabhängigkeit der Zentralbank aus einem Verstoß gegen das Primärrecht ergeben. Art. 130 AEUV sowie das Protokoll (Nr. 4) zum EU-Vertrag (EZB-Satzung) in seinem Art. 7, das nach Art. 51 EUV zum Bestandteil der Verträge zu zählen ist und damit ebenfalls dem Primärrecht zugeordnet wird, schreiben vor, dass alle nationalen Zentralbanken in ihrem Handeln im Europäischen Zentralbankensystem unabhängig sein müssen:

Artikel 7

 Unabhängigkeit

Nach Artikel 130 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union darf bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Verträge und diese Satzung übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten weder die EZB noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen. Die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten sich, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der EZB oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen.
Bedenken bestehen in diesem Zusammenhang insbesondere daher, da nach der jüngsten ungarischen Gesetzesnovelle (Gesetz über die ungarische Notenbank vom 30.12.2011) die Möglichkeit besteht, die ungarische Notenbank jederzeit mit der Finanzmarktaufsicht (PSZAF) zu fusionieren. Die dadurch entstehende neue Einrichtung kann daraufhin unter die Leitung eines vom Ministerpräsidenten ernannten Präsidenten gestellt werden.

Dies könnte die in Art. 130 AEUV geforderte Unabhängigkeit der ungarischen Notenbank, als nationale Zentralbank, in Frage stellen. Gerade diese Unabhängigkeit ist jedoch im Europäischen System der Zentralbanken (ESZB), das nach Art. 282 Abs. 1 AEUV durch die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Zentralbanken gebildet wird, fest verankert. Oberstes Ziel der EZB ist die Gewährleistung der Preisstabilität (Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV). Hierfür sollen die nationalen Zentralbanken als Teil des ESZB in ihrer Geldpolitik unabhängig sein. Regierungen der Mitgliedstaaten sollen davon abgehalten werden auf die Zentralbanken Einfluss zu nehmen und gerade mit Blick auf Wiederwahlen eine kurzfristige und zu expansive Geldpolitik zu verfolgen. Diese eben dargelegte zielbezogene, institutionelle Unabhängigkeit ist gekoppelt an eine finanzielle und persönliche Unabhängigkeit. Die Forderung nach Unabhängigkeit erfasst daher nach Art. 7 S. 1 der EZB-Satzung auch die Mitglieder der Beschlussorgane der nationalen Zentralbanken. Diese sollen ebenfalls weisungsunabhängig sein.

Sowohl die institutionelle als auch persönliche Unabhängigkeit scheinen im oben geschilderten Fall Ungarns berührt. Ein Verstoß gegen das im Primärrecht (Art. 130 AEUV, Art. 7 EZB-Satzung) stark abgesicherte Unabhängigkeitsgebot könnte daher von Seiten der Europäische Kommission durchaus bejaht werden. Die Einleitung eines Vertragsverletzung hätte bei dieser Annahme Aussicht auf Erfolg.

Bei den anderen vorgebrachten Bedenken, zur Unabhängigkeit der Richter und etwaigen Einschnitten beim Datenschutz, müsste ebenfalls das Unionsrecht auf konkrete Verstöße hin untersucht werden.


Verfahren nach Art. 7 EUV

Die zweite im Raum stehende Möglichkeit von Seiten der Europäischen Kommission bestünde darin ein Verfahren nach Art. 7 EUV einzuleiten, wobei es um die Verletzung fundamentaler Grundsätze der EU durch einen Mitgliedstaat geht und etwaigen Sanktionen.

Art. 7 Abs. 1 EUV regelt das Verfahren, wonach festgestellt werden kann, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung, der in Art. 2 EUV genannten europäischen Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Art 7 Abs. 2 EUV regelt darüber hinaus, die Feststellung einer tatsächlichen Verletzung europäischer Werte. Hieran kann sich ein in Art. 7 Abs. 3 EUV geregeltes Sanktionsverfahren anschließen. In diesem Fall muss die Verletzung nicht nur „schwerwiegend“ sondern auch „anhaltend“ sein. Sanktionen umfassen die Aussetzung vertraglicher Rechte, insbesondere auch die Aussetzung der Stimmrechte des Vertreters der Regierung des Mitgliedstaats im Rat. Wichtig ist somit die Unterscheidung, dass bei einer Verfahrenseinleitung aufgrund eines Gefahrentatbestandes keine Sanktionsmaßnahmen ergriffen werden können, sondern nur beim Vorliegen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung nach Art. 7 Abs. 2 EUV. 

Der Schutzbereich des Art. 7 EUV bezieht sich in all seinen Verfahrensstufen auf die in Art. 2 S. 1 EUV genannten „Werte“ der Europäischen Union: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Hinzu kommt die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Es handelt sich hierbei um Werte auf denen sich die Union gründet und die nach Art. 2 S. 2 EUV allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam sein sollen, die durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und der Gleichheit von Frauen und Männern ausgezeichnet ist.

Art. 7 EUV setzt voraus, dass die Gefahr einer Verletzung dieser Werte, oder eine Verletzung derselben gegeben ist. Hierbei wird der Wortlaut des Art. 7 EUV überwiegend dahingehend interpretiert, dass die Verletzung eines einzigen Wertes ausreicht. Die Verwendung des Tatbestandsmerkmals „Werte“ soll stattdessen verdeutlichen, dass Einzelfälle nicht hierunter fallen. Schutzinteresse sollen nicht die Individualinteressen Einzelner sein, sondern vielmehr die Funktionsfähigkeit und die Werte der Union in ihrer Gesamtheit. Diese müssen in ihrem Kern erschüttert werden. Dies ist vorstellbar bei einer Reihe von Einzelverletzungen deren gemeinsame Wirkung ein oder mehrere Werte des Art. 2 EUV erschüttern, oder einer einzelnen Verletzung, deren Wirkung so erheblich ist, dass sie den Grundsatz in ihrem Bestand erschüttert.

Hinsichtlich der Kritik, die bezüglich der Unabhängigkeit der Richter erhoben wird, könnte somit der Grundwert der Rechtsstaatlichkeit betroffen sein. Denn das Rechtsstaatsprinzip setzt eine funktionierende Gewaltenteilung voraus. Beeinträchtigungen zur fehlenden Gewährleistung eines angemessenen Datenschutzes könnte die Grundwerte Menschenwürde und die Freiheit der Person betreffen. Kritik kam auch auf hinsichtlich eines Verstoßes gegen die Pressefreiheit, das als Kommunikationsgrundrecht unter den Wert der Demokratie zu ziehen wäre. Im Fall Ungarns könnte somit von Seiten der Kommission an eine Geltendmachung einer Reihe von Einzelverletzungen zu denken sein, die mehrere Werte des Art. 2 EUV erschüttern. Diese müssten jedoch um wirkliche Sanktionen gegen Ungarn ergreifen zu können „andauernd“ und „schwerwiegend“ sein.

Bisher wurde eine Verfahrenseinleitung nach Art. 7 EUV gegenüber einem EU-Mitgliedstaat noch nicht vorgenommen. Die Einleitung eines solchen Verfahrens im Fall Ungarns erscheint daher unwahrscheinlich. Dies liegt u.a. auch an den hohen Hürden, die für ein solches Verfahren vorgesehen sind. So bedarf es für die Einleitung eines Verfahrens, dass auf einen Gefährdungstatbestand des Art. 7 Abs. 1 EUV beruht, eines begründeten Vorschlags eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission. Sodann kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass eine eindeutige Gefahr besteht. Für eine Verfahrenseinleitung nach Art. 7 Abs. 2 EUV und etwaige hieraus ableitbare Sanktionen, bedarf es ebenfalls eines Vorschlags zur Einleitung von entweder eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Kommission. Nach der Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat nur einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat. Erst nach dieser Feststellung kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit Sanktionen beschließen (Art. 7 Abs. 3 EUV).


Fazit

In der momentanen Situation ist daher von Seiten der Kommission, falls es nicht zu einer vorherigen Einigung kommen sollte, mit einer Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 258 ff. AEUV zu rechnen. Hierbei stünde es Ungarn noch im Vorverfahren offen, eine außergerichtliche Streitbeilegung zu suchen, indem es durch Nachbesserungen die vorgeworfenen Verletzungen beseitigen könnte und damit ein Klageverfahren verhindern würde. Die Stimmen, die aufgrund der Vielzahl der verschiedenen Regelungen und deren Relevanz im Hinblick auf die Gewährleistung der elementaren Grundwerte der EU immer lauter werden und ein Verfahren nach Art. 7 EUV fordern, sollten jedoch nicht unterschätzt werden.

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